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🕯️ Nacht der Juchfruun
Eine Halloweengeschichte aus Borby
Lara (17) und Jonas (18) kamen spätabends zu Fuß von einer Halloween-Party bei Freunden in Borby – vorbei am Gemeindehaus, die Norderstraße hinunter.
Ihre Kostüme trugen sie im Rucksack: Lara hatte ein altes Gildegewand dabei, Jonas eine selbst gebastelte Fahne mit dem Borbyer Wappen.
Beides gehörte zu ihren Kostümen.
Beides stammte vom Dachboden von Laras Großeltern –
gefunden zwischen alten Kisten, vergilbten Fotos und vergessenen Erinnerungen.
Dort, in einer kleinen Holzschatulle unter einem Stapel alter Zeitungen, lag auch das Fragment eines alten Siegels.
Es war aus Metall, leicht glühend, mit einem eingeritzten Wappen und einem Riss, der wie ein Blitz durch die Mitte lief.
Sie hatten es mitgenommen – aus Neugier, ohne zu wissen, was es bedeutete.
Ihr Weg führte sie über den alten Dorfplatz, die Treppe hinauf, über den dunklen Schulhof zur Bergstraße.
Links sah man weit unten den Hafen, rechts ragte die Borbyer Kirche auf,
davor der Friedhof – still, aber nicht leer.
Die Grablichter flackerten, obwohl kein Wind ging.
Das Tor stand offen.
Plötzlich öffnete sich die Kirchentür.
Nebel quoll heraus, und aus dem Licht traten mehrere Gestalten:
der Gildekönig, der Vorsitzende, der Fahnenschwenker – und die Juchfruun.
Doch sie waren keine Menschen, sondern Geister aus längst vergangenen Zeiten.
Ihre Körper schimmerten durchscheinend, ihre Bewegungen wirkten wie Erinnerungen, die sich selbst abspielten.
Lara erkannte sie von alten Fotos auf der Homepage der Borbyer Gilde,
die sie sich mit ihren Eltern und Großeltern schon oft angesehen hatte.
„Ihr habt das Zeichen getragen“, sprach die Juchfruu.
„Nun müsst ihr es ehren.“
Lara und Jonas wollten fliehen, doch eine unsichtbare Kraft zog sie in die Kirche.
Dort offenbarte eine der Juchfruun ein altes Geheimnis:
Lara ist die Ururenkelin jenes Mannes, der einst Borby verriet.
Ihr Ururgroßvater war damals Bürgermeister von Borby.
Er verkaufte die selbständige Gemeinde Borby an die Stadt Eckernförde –
aus Machtgier und politischem Kalkül.
🏚️ Der Lindenhof – ein stiller Zeuge
Der Lindenhof – das Stammlokal der Borbyer Gilde – blieb noch lange bestehen.
Ein stiller Zeuge des Verrats, der einst geschah.
Erst vor etwa zehn Jahren wurde das Gebäude aufgegeben und abgerissen.
Doch der eigentliche Bruch geschah viel früher –
damals mit dem Vertrag, der Borby seine Selbstständigkeit nahm.
Seitdem liegt ein Fluch auf dem Dorfplatz.
🌫️ Was bewirkt der Fluch?
- Zur Gildezeit, dem Wochenende nach Pfingsten, wird der Dorfplatz von Nebel umhüllt – selbst bei Sonnenschein.
- Die Holzbrücke, die Borby mit der Stadt verbindet, wirkt abweisend.
 Borbyer berichten von plötzlichem Unwohlsein, wenn sie sie betreten.
- Die Fahnen hängen schwer, als würde die Geschichte selbst sich weigern, gefeiert zu werden.
- Kinder hören Stimmen im Wind, ältere Borbyer meiden den Platz – nicht aus Aberglaube, sondern aus Erfahrung.
- Und jedes Jahr, wenn die Kirchturmuhr Mitternacht schlägt, erscheinen die Geister der Gilde – wartend, hoffend, dass jemand den Schwur erneuert.
🕰️ Die Aufgabe
Der Gildekönig trat aus dem Nebel und sprach mit ernster Stimme:
„Drei Dinge musst du vollbringen, um den Fluch zu lösen:
Den Schwur erneuern – mit Fahne und Gewand, im Namen der Borbyer Gilde und der Gemeinde.
Die Wahrheit bekennen – auf dem Platz, wo einst der Lindenhof stand und der Verrat begann.
Das Siegel zurückgeben – hier auf dem Dorfplatz vor dem Lindenhof, wo es einst gebrochen wurde.“
Er überreichte Lara ein glühendes Fragment des alten Gildesiegels.
„Doch sei gewarnt: Du hast nur eine Stunde – von Mitternacht bis ein Uhr.
Wenn die Kirchturmuhr eins schlägt, schließt sich das Tor der Versöhnung für weitere zehn Jahre.“
🔔 Die Entscheidung
Die Kirchturmuhr begann zu schlagen. Mitternacht.
Lara kniete sich auf den Boden, öffnete ihren Rucksack und holte das Gildegewand hervor.
Sie schlüpfte hinein – langsam und feierlich, als würde sie in eine andere Zeit treten.
Jonas stand neben ihr, hielt die Fahne fest und reichte sie ihr mit einem stillen Nicken.
Lara nahm sie entgegen, ihre Hände zitterten leicht – nicht vor Angst, sondern vor Bedeutung.
Dann trat sie in den Kreis der Geister.
Sie hob die Fahne. Ihre Stimme war klar:
„Ich bin Lara von Borby.
Ich trage das Erbe, aber ich wähle die Zukunft.
Borby lebt – nicht als Stadtteil, sondern als Seele.“
Sie legte das glühende Siegelfragment auf den Gildestein.
Ein Lichtstrahl durchbrach den Nebel.
Die Geister der Gilde lächelten.
Der Fahnenschwenker trat hervor, hob die Fahne und begann sie zu schwenken –
langsam, würdevoll, in kreisenden Bewegungen, als würde er die Geschichte selbst neu schreiben.
Die Juchfruun juchten ein letztes Mal –
ein uralter Ruf, der durch Borby hallt, kraftvoll und befreiend.
Dann verschwinden sie.
Der Nebel löst sich auf.
Die Uhr schlägt eins.
Borby ist frei.
🎉 Ein paar Monate später…
Es war das Wochenende nach Pfingsten.
Das Gildefest wurde gefeiert.
Die Sonne strahlte über Borby,
als hätte sie sich selbst an die Gildeordnung gehalten.
Der Dorfplatz war festlich geschmückt,
das große Festzelt stand offen,
die Fahnen flatterten im Wind,
Kinder liefen lachend zwischen den Bänken umher.
Der Nebel, der sonst wie ein Schatten über dem Platz lag, war verschwunden –
zum ersten Mal, seit der Lindenhof abgerissen wurde.
Die Musik spielte, die Gilde marschierte,
und Lara, die ihr Gildegewand mit Stolz trug, lief vorne mit –
denn sie war jetzt selbst Juchfruu geworden.
Ihr Schritt war sicher, ihr Blick strahlte,
und sie trug das Gewand mit der Würde jener,
die die Geschichte kennen und weitertragen.
Jonas war ebenfalls da, die Fahne über der Schulter,
und der Fahnenschwenker hatte ihn eingeladen, beim nächsten Umzug mitzulaufen.
Die Geister waren verschwunden,
aber ihre Spuren blieben –
in den Blicken der Älteren,
im Lächeln der Juchfruun,
die nun wieder lebendig durch die Reihen tanzte.
🌉 Nur eines war geblieben
Die Holzbrücke.
Sie lag da, wie immer, zwischen Borby und der Stadt.
Doch an diesem Wochenende ging niemand darüber.
Nicht aus Angst – sondern aus Respekt.
Die Borbyer feierten, lachten, tranken, sangen und tanzten.
Aber wenn jemand zur Brücke kam, hielt er inne –
und ging außen um den Binnenhafen herum.
„Es braucht Zeit“, sagte Lara leise zu Jonas.
„Die Geister sind gegangen, aber die Erinnerung bleibt.“
Jonas nickte. „Vielleicht nächstes Jahr.“
Lara blickte in Richtung Stadt –
dorthin, wo hinter dem Petersberg, den Häusern und Bäumen die Holzbrücke liegt.
Man konnte sie vom Dorfplatz aus nicht sehen,
aber sie war in ihren Gedanken so präsent wie eh und je.
Ein leichter Wind kam vom Hafen herüber.
Kein Nebel, keine Stimmen – nur Stille.
Und doch war sie da, die Geschichte.
Nicht als Fluch,
sondern als Teil von Borby.
🖋️
Wo Geschichte lebt und Legenden weiterziehen.
Digital bewahrt – 2025, Kai Sobotta mit KI.
 
				 
															